Migration Wie die Grünen in der Asyl-Frage ihr Ansehen verspielen Die EU-Asylreform wäre fast an der Blockade der Grünen gescheitert. In den Ampelparteien SPD und FDP ist die Fassungslosigkeit über den Koalitionspartner groß.


Silke Kersting,


Jürgen Klöckner,


Moritz Koch,


Carsten Volkery

28.09.2023 - 17:39 Uhr aktualisiert

Berlin, Brüssel. Noch am Morgen frohlockten die Grünen. "Der bisherige Entwurf der Krisenverordnung wäre schlecht für die Kommunen bei uns in Deutschland", schrieb Parteichef Omid Nouripour auf X (ehemals Twitter). Auch Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann freute sich auf erneute Verhandlungen in Brüssel. "Durch eine klare deutsche Haltung ist offenbar Bewegung in die Gespräche gekommen."

Während Annalena Baerbock (Grüne) lange gegen die Asylreform war, stimmte Nancy Faeser (SPD) dem Paket heute zu.
Foto: IMAGO/Metodi Popow

Gebracht hat das jedoch nicht viel. Die EU-Innenminister einigten sich am Donnerstagnachmittag im Grundsatz auf die umstrittene Krisenverordnung, nachdem Deutschland seine Blockade auf Druck von Kanzler Olaf Scholz (SPD) aufgegeben hatte. Die Bundesregierung habe einige Textänderungen durchgesetzt, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Die Grundrechte von Asylbewerbern blieben auch im Krisenfall gewahrt. Doch am Kern der Krisenverordnung hat sich nichts geändert.

Für die Grünen ist es eine herbe Niederlage. Die Partei stand schon nach dem Machtwort des Kanzlers am Mittwoch düpiert da. Selbstbewusst argumentierten Spitzenvertreter bis hin zu Außenministerin Annalena Baerbock, dass die Krisenverordnung in der ursprünglichen Version nicht kommen dürfe. Ohne Scholz' Eingreifen wäre die EU-Asylreform alleine am Widerstand der Grünen gescheitert - und das mitten in der sich zuspitzenden Migrationsdebatte. Deutschland wäre international blamiert, die Ampelkoalition ernsthaft beschädigt gewesen. Die Fassungslosigkeit bei SPD und FDP über ihren Koalitionspartner war groß.

Der Ärger steht symptomatisch dafür, dass die Grünen - gemessen am Wahlergebnis der zweitstärkste Koalitionspartner - in der Bundesregierung dramatisch an Ansehen und Einfluss verlieren. Bereits im Streit um den Atomausstieg musste der Kanzler die Partei mit einem Machtwort einfangen.

Mitten in einer Energiekrise frühzeitig verbliebene AKWs abzuschalten, mag aus Grünen-Sicht richtig gewesen sein. Für einen großen Teil der Bevölkerung und die Wirtschaft war es aber ein fatales Signal. Ähnlichen Schaden hätte die deutsche Blockade der Asylreform in Brüssel angerichtet. Die Partei verbohrt sich offenbar in entscheidenden Krisenmomenten in grünen Kernpositionen. Koste es, was es wolle.

Andere Themen waren plötzlich wichtiger

Bezeichnend ist, dass die Partei am Donnerstag den Eindruck erweckte, als seien andere Themen wichtiger. Spitzen-Grüne arbeiteten sich an CDU-Chef Friedrich Merz ab, der mit Äußerungen über Zahnbehandlungen für Asylbewerber eine hitzige Debatte auslöste.

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Wer aber öffentlich erfahren wollte, was die Grünen über die Zustimmung zum Asylkompromiss denken, den sie am Tag zuvor im "Chaos" enden sahen, der musste lange warten. Aus der Partei hieß es lediglich, man wolle die Abstimmung im Kreis der EU-Botschafter abwarten. Und Fraktionschefin Katharina Dröge sagte lediglich dem "Spiegel", der Kanzler habe "kein Machtwort gesprochen".

Olaf Scholz (SPD) entschied schließlich, dass Deutschland dem ausgehandelten Regelwerk zustimmen wird.
Foto: IMAGO/Eibner

Konkret geht es bei der Asylreform um Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen. Flüchtlinge aus Ländern mit geringer Anerkennungsquote sollen künftig schon an der Grenze ihren Asylantrag stellen müssen und den Ausgang des Verfahrens in Auffanglagern abwarten. Abgelehnte Asylbewerber würden dann direkt wieder ausgeflogen, ohne in die EU eingereist zu sein.

Die Krisenverordnung sieht vor, dass Mitgliedstaaten im Notfall diese Schnellverfahren auf alle Migranten ausweiten können, wenn es einen plötzlichen "Massenzustrom" gibt. Auch könnten sie die Menschen länger in den Auffanglagern festhalten. Die deutschen Grünen sehen darin die Abschaffung des Asylrechts. Deutschland hatte deshalb die Krisenverordnung lange blockiert, bis Scholz sein Machtwort sprach.

Daraufhin kam über Nacht wieder Bewegung in die Gespräche in Brüssel. Die spanische Ratspräsidentschaft legte einen neuen Kompromisstext vor, der in der Ministerrunde mehrheitlich Zustimmung fand. Eine sehr große Mehrheit stehe hinter dem Kompromiss, sagte der spanische EU-Ratsvorsitzende Fernando Grande-Marlaska. Man müsse nur noch einige "Nuancen" in dem Text abstimmen.

Eine formelle Abstimmung fand unter den Ministern noch nicht statt, diese soll in den nächsten Tagen unter den EU-Botschaftern erfolgen. Deshalb blieb am Donnerstagnachmittag noch eine Restunsicherheit - auch weil Italien überraschend noch Nachbesserungsbedarf anmeldete. Die Regierung von Giorgia Meloni möchte im Krisenfall schärfer gegen private Seenotretter vorgehen können. Nötig ist eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 15 Staaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

EU-Innenkommissarin Ylva Johannson sagte, es blieben keine großen Hürden mehr. "Ich bin sicher, dass wir in einigen Tagen eine formelle Einigung haben werden."

Sobald die EU-Botschafter abgestimmt haben, können die Verhandlungen mit dem Europaparlament weitergehen. Aufgrund der deutschen Blockade im Rat hatte das Parlament vergangene Woche mehrere Sitzungen abgesagt. Der Rat und das Parlament wollen die Asylreform vor der Europawahl 2024 beschließen.

In der Ampel hatte die Blockade der Grünen dazu geführt, dass selbst linke SPDler das Vertrauen in ihren Koalitionspartner verloren. "Eine Zusage kann morgen schon wieder nicht mehr gelten", sagt ein hochrangiger Vertreter. Da arbeite man doch lieber mit der FDP zusammen. Dabei hatte die Regierung schon mehrfach ihren Ärger überwunden geglaubt.

Das letzte Treffen der Koalition in Meseberg Ende August war noch von Optimismus geprägt gewesen. Damals beschworen SPD, Grüne und FDP eine Art Neustart. Es sei allen klar gewesen, dass die Regierung in den nächsten Monaten Handlungsfähigkeit zeigen müsse, sagte eine führende Grüne unmittelbar nach dem Treffen. Zuvor hatte die grünen Familienministerin die Koalition mit ihrem Veto gegen das Wachstumschancengesetz erneut in eine Krise gestürzt.

Selbstkritische Töne aber sind selbst in Hintergrundgesprächen selten. Dort ist dann die Rede von einer "Phase, die uns definitiv Schwierigkeiten macht". Mit Blick etwa auf das Heizungsgesetz heißt es, vielleicht habe man eine zu ehrgeizige Reformagenda in dieser schwierigen Zeit. Eher eint viele Grüne die Überzeugung, dass sie zerrieben werden zwischen denen, denen es beim Klimaschutz zu langsam geht, und denen, denen es deutlich zu schnell geht.

Und im Zweifel arbeitet sich die Partei lieber am Dauerfeuer der FDP gegen die Grünen ab als an sich selbst. Zuletzt hatte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai die Partei als "Sicherheitsrisiko für das Land" bezeichnet. Durch realitätsferne Positionen erschwerten die Grünen konsequentes Regierungshandeln und parteiübergreifende Lösungen, sagte er.

Beinahe täglich, klagten die Grünen, gebe es neue Anschuldigungen durch die FDP, an was die Grünen angeblich wieder Schuld seien, heißt es in der Fraktion.

Wie um die Grünen zu bestätigen, warf am Donnerstag der verkehrspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Christian Jung, dem Koalitionspartner "Verzögerungstaktik" vor. Grund sei das Vorgehen der Grünen bei dem geplanten Gesetz zur Planungsbeschleunigung. Diese Woche hätte die abschließende Beratung im Bundestag erfolgen sollen - was von den Grünen blockiert worden sei. Und so kocht schon der nächste Streit in der Ampel hoch.

Mehr: Scholz spricht Machtwort - Deutschland gibt Asylblockade in der EU auf


Quelle: Handelsblatt